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Gedichte

9. November 1938

Was du gesehen, deine Seele gefror, dein Vaterland, alles
flog in Flammen dahin,

was du gehört, Geschichte, du kanntest jetzt die Bilder, 
alles Sturm,

was du geweint, es blieb der Frost, das Glas, du, das Kind, 
ein Zeuge,

deine Beine.

Was unter deinen Füßen war, das Glas, Hauch, dein Atem, 
Tränen,

was du gewünscht, den Vater, groß, der Mutter Hände, der 
Nachbarn Tisch, jetzt Beute,

was du geträumt, gedacht, die Wünsche, gehängt, im 
Kinderbett, ein Zeuge,

deine Beine

Aufs Rad geflochten

Du hörst das Meer in dir, das alles treibt, die Toten,
eingekrallt, die Mauern, die Häuser, die du
fallen sahst, die Wände, in die Nacht gemalt,
Fenster, die Rahmen noch herausgebrochen,

dich meiden Vögel, Sonne, Menschen, blind, du bist, ein
Stein, die Ohren tief schon im Beton, die Blumen,
jemand reicht sie nach. Was ist das? Die Boten,
aus der Toten Welt, die Erde,

das war es also, du ranntest schneller noch, der Nebel,
dick, du hörst die Schreie stets, tief, unter
deinen Füßen, du hast sie alle doch gehängt, ein
stummes Zucken, fest eingekerbt, in jeder Nacht.

Was wirst du tun? Der Stein im Schuh, es war dein Tisch, an
dem sie saßen, die du zur Bahn gebracht, zum
Viehwaggon, der Wind kennt ihre Namen,

die Kinder stehen auf, du hältst dir jetzt die Ohren zu,
das nicht, der Schornstein, der den Himmel fraß, 
wir sehen dich, der Stein, der deinen Namen 
trägt, der Spiegel, Scherben, die Erde,
aufgerissen,

du, Vater, Mutter, du hieltst mich an der Hand, ihr habt  
gar nichts gesehen, und wir, Schimären gleich,
m Rauch, Gespenster doch, zu Stein gefroren,

ich hab' in jeder Nacht noch Angst, ich sah nicht weg, die
Henker, die Kapuzen fielen,

ich saß im Keller, im Ohr, die Bomben. Ich hab' die
Menschen mit dem gelben Stern gesehen.

Sie winkten nicht.

O-Ton - Aufs Rad geflochten

Original Horst Bingel Aufnahme vom ehemaligen Frankfurter Literaturtelephon 2001

Deutscher Herbst 1989

Sie rauben dir die Seele, jetzt, die Lust, sie rufen,
meilenweit, schöner, die Glocken, im Wind,

das Pflaster, die Straße, die Faust, die Bombe, die Fenster
aufgebrochen, die Menschen tragen Kerzen, nun, die
Menschen, der Wind, der sie treibt, der Ball, die
Mörder, die Kinder, auf einer Bahre, auferstanden,

im Rabenschrei, die Pferde, im Sturz, im Flug noch, geborgen,
die Kirche, unter den Brücken, schwarz, im Strom,
der Schrei, die Sirenen schweigen,

sie brennen dir diese Stadt in die Haut, das Kutschenrad, die
Speichen, deine Knochen, gestreckt, zum Kranz dir
geflochten, das Holz, morsch, du, in der Marter
auferstanden, niemand, der deine Seele raubt, die
Hölle, abgebrannt, meilenweit.

Felsenmeer

Wir haben uns eingegraben, Stollen an Stollen, die Wälder
umgestülpt,

wir haben der Erde Schätze abgefackelt, sie jagt uns in
Teer und Federn von dannen, nackt, entblößt, wie
wir kamen,

uns bleibt die Flucht, die Wege, aufgerissen, zersprungen,
wir haben die Berge abgetragen,

noch einmal, wir halten an. Wer grüßt?

Wir, die Steine, sie schmerzen, der Asphalt, die Sonne,
noch einmal, es schmilzt, hängt fest, zieht
Blasen,

wir werden mit Blei die Formen ausgießen.

Wir haben uns angestrengt, es waren Frauen, Kinder, die
weinten,

wir haben der Sonne Gewinn abgeschöpft, das Licht
gestohlen, ausgetrocknet den Fluß,

uns bleibt der Sieg, wir, niemand, der folgt, wir, wir
greifen den Wind,

noch einmal, wir verbieten die Geschichte, keiner fragt,
niemand erzählt.

Wir, der Marsch, ohne Ende, wir ziehen den Fischen die
Kiemen lang, wir, Amphibien, erjagt,

wir werden in Stein jetzt feilgeboten.

Fragegedicht (Wir suchen Hitler)

Hitler war nicht in Deutschland

niemals

haben sie wirklich herrn Hitler gesehen

Hitler ist eine erfindung

 

man wollte uns

wie damals

die schuld

Hitler ist eine erfindung

dekadent

ihre dichter

 

für Hitler

erstmals

den Nobelpreis

für ein kollektiv

Hitler

 

eine deutsche Frau

ist nicht für Hitler

die deutsche frauen

nicht

sie tun es

die pfarrer

am sonntag frühmorgens

niemand hat Hitler gesehen

 

niemand hat Hitler gesehen

Hitler ist ein gedicht

nur an gedichten

sterben sie nicht

in blauen augen

wird Hitler

kein unheil anrichten

wer hat gesagt

die Juden die Deutschen die Polen

gibt es nicht

nicht

 

Hitler ist eine erfindung

der bösen der guten der bösen

wer so etwas

wir aber werden

verzeihen

poesie

das hebt

heraus

Hitler ist keine nationaldichtung

wir waren schon immer

verderbt

durch fremdländisches

 

Hitler ist das größte

an internationaler poesie

schade

doch Goethe hat es

geahnt

Goethe unser

 

Hitler hat inspiriert

autobahnen

briefmarken

wir haben Hitler

umgesetzt

wirtschaftlich

autark

nichts wurde fortan

unmöglich

 

Hitler

unser stärke

war

fremdländisches

umzusetzen

umzusetzen

wir haben Hitler

assimiliert geschluckt

Hitler

ich

du

er

sie

es

und und

Hitler

ich

du

ohne ende ohne

kein ende

ich

du

wir fragen nach

Hitler

Hitler

wir

Hitler

aber wir fragen

Gegend, austauschbar

Die Gegend ist 
mies wir haben viel Gemeinsames 
die Liebe zu Katzen und Hunden 
und die Unlust am Morgen wenn
in dieser Gegend 
ein Mensch stirbt pflanzen 
sie Bäume der Tod 
ist nicht irgendwer 
gestern die Schule war gerade aus 
wurde ein Junge überfahren
45 Minuten lag er 
auf dem Trottoir wenn ich nicht 
Angst hätte aufzufallen 
hätte ich dem Jungen 
eine Decke gebracht.

Geschichte

Wir saßen im Weidenbaum, ich und ich, 
der Wind und der Regen, die Beute, 
die Toten, im Sumpf, 
die Frösche 
schwiegen.

Wir saßen im Weidenbaum, ich und ich, 
Vaters Schlachten, Mutters Trophäen, 
Jägers Hochsitz, wir, 
die Eulen 
kamen.

Wir saßen im Weidenbaum, ich und ich, 
die Hexe siegte im Knusperhaus, 
Vögel, jubelten, 
Fingerlein 
gehenkt.

Horoskop

Wenn der Himmel brennt,
wird die Flamme den Tag anzünden, 
Feuer von Feuer.

Wenn das Blatt sich rollt, 
wachsen in den Regenwolken stets 
Rosen von Rosen.

Wenn der Winter friert, 
teilen im Luftballon die Toten 
Steine um Steine.

Im Angesicht

Die Erde gehört dir nicht, der Acker nicht, du im Lehm,
halt' ein, du stürzt doch nicht, du stichst sie
an, du spießt sie auf, du, du reichst deine Hand,
die Erde trägt dich fort, sie gibt dich ab, sie, sie
zaubert, du machst die Augen zu, die Erde fliegt, 
du, du an Deck,
du jagst doch nicht.

Du hast die Erde nicht verbrannt, die Feuer dir entfacht,
hast sie verkauft, geschunden, im Beton erwürgt,
du, du im Pferd, im Maul, der Zaum,
du hast die Erde nicht gekannt, du, im Gebiß, im Lassowurf,
die Bäume, sie warten, dich, dich trifft nicht
mal der Tod,
dein Schritt trägt leicht.

Die Erde hält dich fest, du stirbst ja so schnell, wir
neben dir, im Wind, sieh, der Galgen, dort im 
Boden wächst, ihre Grüße, dir bleibt fast nichts,
die Erde läßt stets dich heiter sein, du schläfst, Eis,
nichts kümmert dich, die Erde wächst, die Bäume, 
wir, wir tragen dich,
du merkst es nicht.

In den Iden des März

In den Schreien der Kinder, der 
Kinder von Bagdad, es 
brennt ein Traum, die 
Welt, nackt, der 
Krieg, das bißchen 
Laub, du, im 
Spiegel, du, 
im Rauch.

In dieser Stunde

Heute redet einer, 
er sah zu, 
wie sie einen Menschen 
mordeten.

Er spricht 
wie gestern. 
Niemand, 
der Einhalt gebietet.

In diesem Moment 
werden Würfel gezählt. 
Niemand 
erfährt den Ausgang 
des Spiels.

In die Wand geschrieben

Fahr' aus, dein ist der Orkus, später erjage ich dich, die
Schwüre, dein Leben, blank, du lachst doch nicht,
das sind keine Tänze, du liegst nicht im Bauch
von Paris,

das ist ein Fisch, in dir, nur seine Spiele, er macht dich
nieder, ohne Zaudern, das sind die Meere, dich
hält kein Netz,

du warst dabei, du sprangst gleich auf, das war dein Blitz,
deine Strände, du warst die Beute nicht, verrat' 
mich gleich,

du liegst, in Netzen jetzt doch fest, die Beute, deine
Felder, verbrannt, das Korn, im Graben, ich,
diese Kiemen,

wir fangen dich.

Such' dich, unter dir dein Fisch, die Wolken, kein Tanz,
höre den Spielmann, den Möwenschrei, ich höre 
dich,

das ist dein Thron, das ist der Schlaf noch nicht, die
Kiesel, kein Schrei, umsonst,

du bist nicht tot, dein Leben, blank, du, ein Fisch, hier,
schwimm' nur nicht, sie haben im Schlaf mich
durchbohrt, Etüden,

du hoffst, du, Fisch, deine Gräten auf ihren Feldern, der
Sturm, der Himmel, du, im Wind, nicht Mensch, 
du, Fisch,

wir jagen dich.

In einer gelben Kirche

In Lyonel Feiningers gelber Dorfkirche wird
George W. Bush niemals beten, im Raum der
Kunst stirbt Kriegers Lust, Trauer und
Wut, kein Schrei, die
toten Soldaten, alle
Soldaten, in den
Generälen stehen die
Toten stramm, in
der gelben
Dorfkirche
stirbt
Bush.

Steine

Unter dem Strom lebst du, sing' nicht, du hältst, schläfst
du?
Die Tage, dein Tedeum fliegt, vorbei, im Feuer, bleibst
du,
du häkelst noch, du, stets im Garn, siehst ein Gemäuer
jetzt,
setzt Stein auf Stein, schwörst ein den Namen,
Erinnerung.
 

Unter dem Strom stirbst du, dein Sog, stößt an, du nicht?
Die Tage, in der Waage Licht, gebannt, aufgespießt, im
Staub,
du spinnst dich ein, nur Wasser trägt, du packst dich fest,
im Netz,
klopfst Stein um Stein, kerbst ein den Namen,
Erinnerung.
 

Unter dem Strom bleibst du, du singst, im Holz, auf Grund?
Die Tage, auf ewig im Flug, nichts steht, geronnen, im
Sand,
du schläfst fest, die Erde wächst, Kamele, im Horizont,
du sitzt im Stein, stets Dünen atmen,
Erinnerung.

Taube

Du triffst die Taube im Flug, sie ist nicht blau, was
staunst du, sie ist nicht blau,

die Taube sitzt rot schon tief im Horizont, sie wartet mit
dir, bei Tag, nachts, sie spreizt ihr Gefieder,
sie wartet,

sie wartet doch nicht.

Du siehst die Taube so nah, sie ist jetzt dein, was staunst 
du, sie ist doch dein,

die Taube spitzt ewig scharf deinen Schnabel, hinter dem 
Horizont, bei Nacht, tags, sie spitzt ihn ja dir, 
sie fliegt nur,

sie fliegt stets allein.

Du hörst die Taube im Flug, sie bleibt dein Schatten, was 
staunst du, sie grüßt nicht,

die Taube ist nun arg bunt im Horizont, sie ist sonst gar
nichts, bei Tag, nachts, doch hinter dem Regen,
sie trägt dich,

sie trägt dich im Kopf.

 

Thanatos

Du bleibst da unten auf dem Grund, das Wasser hält dich
jetzt,

nie gibst du auf, da rettet sich der Kerl, taucht
einfach auf, schenkt sich das Leben, nennt den
Preis,

du kannst es nicht, dein Wasser, der Sog in dir, sie
stürmen deine Brust, die Marter, all die Seelen,
der Nachbar, sie schnitten ihm die Haut vom Leib,
du hältst die Ohren zu,

er war es nicht, nichts konnt' er tun, die Augen fest
geschlossen,

nie warst du der Erde noch so nah, du bettelst, schnell,
das hält ja niemand aus, du hast das nicht
gewollt,

du gehst den Weg allein, sein Schweigen, deine Stimme, der
Tod, die Hoffnung bricht, keine Hand, die Gebete,
kalt, kein Tedeum, dein Helm, gewendet,

wir haben nichts gesehen, das Wasser nimmt die Toten auf,

du bleibst, du stirbst schon nicht, die Schranken, zu, hier
gibt es kein Gericht, die Rosen, schwarz,

wir, die Gräber, fest geschlossen.

Vor dem Fenster

Er steht, er, im Garten, vor der Tür, er steht, die
Fliegen, er steht,

er steht, er, Mutter hat die Schürze um, die Schürze,
er steht,

er steht, steht, im Winter, der Winter, er steht,

er steht, steht, aufgesetzt den Lauf, den Lauf angesetzt,
er steht,

er steht, er, gekrümmt, der Finger, er zählt die Finger ab,
er steht,

er steht, jetzt, er trifft die Schwester, er fällt die
Schwester, er steht,

er steht, er, Mutter wedelt Fliegen weg, die Fliegen,
er steht,

er steht, steht, es zuckt die Schwester nicht, die
Schwester, er steht,

er steht, er, im Winter nicht, der Winter, die Fliegen
nicht, er steht,

er steht, er, die Fliegen, Mutter jagt die Fliegen, er
steht,

er steht, ich, die Schwester, im Garten, der Garten, die
Schwester, tot, er, er steht.