Erzählungen

Doktor M.

Doktor M. rekelte sich in seiner Hängematte. Den Schirokko im Nacken, auf der Haut. Alles klebte, alles war ganz schön gelb. Jedes Körnchen so fein, jedes einzeln erfunden. Gottes eigener Wind. Beinah spürte man den ersten Menschen noch, sein Atem wehte aus Afrika herüber. Die Straßen des Fischerdorfes waren ausgetrocknet, öde, verlassen. Er schaute gewohnheitsmäßig auf seine Uhr. Er hätte auch eine Fliege totschlagen können. Vor Jahren, als er hierher kam, war er der Ansicht gewesen, dass Fliegen nicht auf den Rand eines Glases gehören. Doch hier konnte man nicht die Sommermonate über fliehen. Er lebte bescheiden. Von seinen Einkünften als Tierarzt hätte er eigentlich besser leben müssen. Vielleicht hätte er nicht Tierarzt werden sollen? Auch diese Frage hatte er sich schon lange nicht mehr gestellt. Wenn im Departement Untersuchungen angesetzt waren, hatte er zu tun. Und sonst? Heute Abend würde es kühler werden. Vielleicht käme eine Brise von der See her auf. Ein langer Abend stand bevor.

Die Stühle und Steine vor den Häusern waren besetzt, auch an den Wänden lehnten Männer und sprachen und tranken. Der Doktor ging täglich diesen Weg. Er fuhr jeden Abend mit seinem Boot hinaus. Stets in die untergehende Sonne hinein. Er liebte das leichte Schaukeln des Bootes. Diese Bewegung, die den langen Schlaf ahnen ließ. So würde es sein. Sanft wie die Wellen, rauf und runter. Das ewige Spiel am Strand. Bald hatte er den Hafen erreicht. Nur Touristen würden ihn als solchen bezeichnen. Es lagen einige einfache Boote dort.
Der Doktor, die schwarze Tasche behutsam unter dem Arm haltend, hatte sein Boot bestiegen. Langsam, erst einen Riemen benutzend, mit dem anderen sich an den benachbarten Booten abstoßend, glitt er hinaus.
"Er rudert wieder. Ob er wohl heute den Fischen die Zähne zieht?"
"Da muss er aber lange suchen, wenn er jeden Tag fährt!"

Einer wollte wissen, dass der Doktor auf See sich mit jemandem treffe. Ob man da nicht mitfahren könne? Ob er denn genug Medizin dabei habe?
Der Doktor klopfte an seine Tasche und rief ihnen etwas zu.

Als er gemächlich so weit gerudert war, dass er nur die Umrisse des Dorfes wahrnehmen konnte, zog er die Ruder ein und öffnete seine Tasche. Er schnäuzte sich die Nase, aus Gewohnheit. Dann entnahm er einem Gefach der Tasche ein Glas, wischte mit dem Tuch einmal darüber und hielt das Glas gegen die Abendsonne. Nun holte er ein zweites Glas hervor, behandelte es noch sorgfältiger. Bevor er es ebenfalls vor sich auf den Boden des Bootes stellte. Schließlich öffnete er seine Tasche abermals. Sie barg an Weinen so ziemlich alles, was ein Mann seines Alters schätzte. Im Connaisseur kristallisiert sich der Atem der Welt.

Plötzlich war es Nacht. Der Doktor legte die Riemen wieder ein und ruderte in großer Eile. Am Strand saßen die Zecher noch immer, als sein Boot knirschend auf den Sand auflief. Sandkorn für Sandkorn zermahlen, zerrieben. Der Doktor klemmte sich seine Tasche fest unter den Arm und schritt winkend davon.

Morgen würde er wieder ausfahren. Die Zeit, vermessen, im Auf und Ab, im Weinglas alles beschlossen. Die kleine Ewigkeit. Er trug noch immer die Unterwäsche seines Großvaters. Glückliches neunzehntes Jahrhundert, im einundzwanzigsten geborgen. Haltbar, wie man damals gearbeitet hatte. Im Geist sah er hier, abends, im Boot, die Weinregale der Großeltern. Gottes Stundenglas. In einer Sanduhr die Zeit vermessen. Zerronnen, im steten Auf und Ab. Morgen würden sie ihn wieder fragen. Die Antwort, gibt stets der Wind, der Atem Gottes. Die ersten Menschen kamen aus Afrika.

Sechs Minuten über die Zeit

Eine Verfügung des Militärgouverneurs: nach zweiundzwanzig Uhr darf keine Zivilperson mehr die Straße betreten. Zweiundzwanzig Uhr. Ein Rad und ein Junge. Sechs Minuten über die Zeit, sechs Minuten am Leben vorbei. Die Straße. Kein Ende. Zwei Quadratki­lometer Sumpf, links; fünf Quadratkilometer Sumpf, rechts. Die Straße. Kein Ende. Wie die Pferde laufen, sie legen die Ohren an, die Räder springen. Sie rollen die Zunge und schauen nach vorn, zwei Söldner des Militärgouverneurs. Sechs Minuten über die Zeit, sie­benmal zu lang die Straße. Ein Rad und ein Junge.

Ein Pfiff. Sie kommen, sie kommen. Ein Rad und ein Junge. Noch eine Kurve, ein Hügel, noch einmal der Peitschenknall. Sie kom­men. Der Junge fährt, die Bäume halten dem Wind jetzt stand: der Junge, er muß gewinnen. Das Lachen der Söldner, die Pferde schnauben. Nach Hause, nach Hause, sie halten ihr Lied.

Jetzt. Ein Ruf, die fremden Soldaten haben den Jungen gesehen. Noch schneller, noch schneller, die Jagd, die Jagd. "Wer ist's?" - "Wer weiß?" - "Gleich..." Ja, gleich über dem Sumpf liegt die Nacht. Der Junge, der Junge, er weiß nicht wohin. "Links, links..." Er kennt ja den Weg, den Weg durch den Sumpf.

Fast stürzt der Wagen, so zügeln die Söldner den Lauf, das Ge­wehr in der Hand. Zwei Schritte im Sumpf, drei Schritte zu­viel... Zweimal ein Schrei, noch einmal, ein letztes Mal. Sie - oder ich? Tote.